Schulzeit im Faschismus und Nationalsozialismus in Südtirol: Meine Grundschullehrerin Helga Bacher Federspieler erzählt

Vereint durch die Liebe zur Schule...

Wir sehen und wir hören uns seit meiner Grundschulzeit.

Warum?
Weil Helga Bacher Federspieler meine Grundschullehrerin war. 

Weil sie einer der Menschen in meinem Leben ist, die mir die Liebe zum Unterrichten und zur Schule und das Verständnis für Schülerinnen und Schüler, das Fördern und den Glauben an deren Fähigkeiten stets vorgelebt hat.

Worum es in unseren Gesprächen geht?
Um die Schule

Um Kinder und Jugendliche

Um Bücher

Um das Schreiben

Um Lehr- und Lernmethoden

Um kritisches Denken

Um das Schule-neu-Denken.

 

Wie aber war ihre eigene Schulzeit?

Eine Schulzeit in Südtirol zwischen Faschismus und Nationalsozialismus. Zur Zeit der Option, als die Südtiroler Familien zu einer folgenschweren Entscheidung gezwungen wurden: GEHEN oder BLEIBEN? 

Frau Federspieler erzählt von ihrer Schulzeit in Südtirol während des 2. Weltkrieges und in der Nachkriegszeit, in der ihr Vater, ein Lehrer, und sein früher Tod sie stark prägten. Und von der damaligen Ausbildung des Lehrpersonals.

Meine ehemalige Lehrerin hat mir ihre schriftlichen Erinnerungen bei einem unserer Gespräche zur Verfügung gestellt. Und nun möchte ich sie mit ihrer Erlaubnis hier veröffentlichen, um dieses so wertvolle Dokument einem größeren Kreis an interessierten Leserinnen und Lesern zugänglich zu machen.

Auf dem Schoß ihrer Mutter...

Meine Familie

„Meine Schulzeit verlief, wie bei vielen Kindern während der Kriegs– und Nachkriegszeit, nicht in so geregelten Bahnen wie heute.

Da mein Vater Anton Bacher dabei eine wesentliche Rolle spielte, möchte ich kurz auf seine Tätigkeit als Lehrer eingehen.

Er wurde am 4. Oktober 1899 in Niederdorf in der Bacher Säge geboren. Während des Ersten Weltkrieges besuchte er die Lehrerbildungsanstalt in Innsbruck. Diese Hungerjahre wurden ihm etwas erleichtert durch die gelegentlichen so genannten „Freitische“, das heißt, dass wohlhabendere Familien bei sich zu Hause armen Studenten ein kostenloses Mittagessen ermöglichten.

Aufkirchen bei Niederdorf war im Jahre 1919 seine erste Schulstelle. Im Jahre 1926 wurden durch die faschistische Regierung alle deutschen Schulstellen aufgehoben. Er arbeitete dann bis 1930 daheim in der Bacher Säge. 

1930 heiratete er die Bäckerstochter Maria Fuchs. Gemeinsam führten sie nun bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im September 1939 den Gastbetrieb „Bad Maistatt“. 

Das waren also meine Eltern. 

Von 1930 bis 1940 bekamen sie sieben Kinder, ich war das dritte Kind und wurde 1934 geboren.

Mein Vater als Lehrer während der Zeit der Option, während des 2. Weltkrieges und sein früher Tod

Nach der Option im Jahre 1939 meldete sich mein Vater wieder zum Schuldienst. 

Er hatte zwar für Deutschland optiert, aber aus verschiedenen Gründen kam es nicht zur Abwanderung, nicht zuletzt wegen des Besitzes von „Bad Maistatt“, für das ein Käufer hätte gefunden werden müssen.  

Für die Kinder der Optanten wurden die „Deutschen Sprachkurse“ eingeführt.  Mein Vater war einer der wenigen noch lebenden Lehrer mit Berufsausbildung und wurde als „Zonenlehrer“, eingesetzt, das entsprach ungefähr dem Aufgabenbereich eines heutigen Schuldirektors. Er arbeitete in den Schuldirektionen Neumarkt und Innichen. Seine Hauptaufgabe bestand in der Ausbildung der vielen so genannten „Hilfslehrer“ (Lehrer ohne Diplom), ohne die während des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren eine deutsche Schule in Südtirol nicht möglich gewesen wäre.

Er hat als Lehrer sehr wenig verdient, von seinem Gehalt hätte er die Familie nicht ernähren können. Zum „Bad Maistatt“ gehörten auch einige Wiesen – sie reichten für vier Kühe – und ein großer Kartoffelacker. Dank dieser Landwirtschaft brauchten wir nie  hungern. Und die Großmutter sorgte auch ein bisschen für die sieben Kinder ihrer ältesten Tochter Marie.

Mein Vater starb am 21. Juli 1946 zu Hause an Herzversagen.

 

Meine Grundschulzeit

Das faschistische Zeugnis der 1. Klasse Grundschule mit dem Siegesengel. Interessant ist auch die faschistische Zeitrechnung "Anno XXI Era fascista"
Noten der 1. Klasse Grundschule
Fast zeitgleich der Schulausweis der sogenannten deutschen Sprachkurse für die Optantenkinder (3. Klasse)

Ich wurde am 2. Jänner 1934 geboren und wurde also im Herbst 1940 eingeschult.  

Mein Vater hatte meine älteren Geschwister Kurt und Marianna, die schon in die italienische Schule gingen, bereits zu Hause im Lesen, Schreiben (Sütterlinschrift) und Rechnen unterrichtet. Mich hatte er gleich dazu genommen. Das war unsere „Katakombenschule“

Ich verbrachte daher nur einen Tag in der 1. Klasse, am nächsten Tag versetzte man mich in die 2. Klasse, somit war ich während meiner ersten Volksschuljahre immer um ein Jahr jünger als meine Klassenkameraden. Diesen Vorsprung habe ich später wieder eingebüßt, weil ich durch die damaligen gesetzlichen Regelungen die 5. Klasse wiederholen musste. Die Schulpflicht dauerte bis zum 14. Lebensjahr, aber in den Dörfern gab es nach der 5. Klasse keine weiterführenden Schulen mehr. Es wurden in der Regel die 2., die 4. und die 5. Klasse wiederholt. Wenn ein Schüler z. B.  die 4. bestanden hatte, stand im Zeugnis: „Wird in die 5. Klasse versetzt, wiederholt laut Planung“.

 

Für die Kinder der Optanten gab es von 1940 bis 1943 die so genannten „Deutschen Sprachkurse“.  Der Unterricht fand immer am Nachmittag statt und zwar nur für zwei Stunden täglich, denn am Vormittag waren die Klassenräume den italienischen Schülern vorbehalten.

Im Herbst 1942 fand mein Vater, dass nur zwei Stunden Schule pro Tag zu wenig wären. Ich besuchte daraufhin im Schuljahr 1942/43 am Vormittag die 1. Klasse der italienischen Volksschule, während ich am Nachmittag bereits in der 3. Klasse der deutschen Schule war. In der italienischen Schule ging es mir gut, ich konnte schon schreiben und lesen und die wenigen italienischen Rechtschreibregeln habe ich mir leicht gemerkt. Ich gehörte zu den besten Schülerinnen, auch wenn ich nicht alles verstand, was die Lehrerin Signora Perini sagte. Vor dem Heimgehen mussten wir sie jeden Tag auf die Wange küssen. Sie roch nach Parfum, es war mir nicht unangenehm. Wir trugen schwarze Kleiderschürzen mit einem weißen Kragen, an dem vorne in der Mitte eine blaue Schleife befestigt war.

 

Nach dem Einmarsch der Wehrmacht im September 1943 wurden alle Schulen wieder deutsch. Ich war nun in der 4. Klasse. Es herrschte großer Lehrermangel und es wurde auf alle verfügbaren Kräfte zurückgegriffen. Wir bekamen den schon länger pensionierten, ziemlich schwerhörigen Herrn Oberlechner als Lehrer. Wir haben seine Hilflosigkeit ausgenützt, uns in vieler Hinsicht disziplinlos verhalten, z. B. dauernd halblaut geschwätzt, auf seine Fragen absichtlich undeutlich geantwortet, uns dumm gestellt, kurzum wir haben ihn zum Narren gehalten. Ich kann mir nicht vorstellen, in diesem Schuljahr viel gelernt zu haben. Wir schrieben übrigens nicht mehr in der „deutschen Schrift“, sondern so wie heute in der lateinischen.

Sütterlin-Schreibübung

Die letzten drei Jahre Pflichtschule bis zum 14. Lebensjahr

Im Schuljahr 1944/45 besuchte ich die 1. Klasse Hauptschule in Bruneck, meine Schwester Marianna besuchte die 2. Klasse. 

Wir wohnten im Heim der Ursulinen, die aber damals mit dem Schulbetrieb nichts zu tun hatten. Ich erlebte zum ersten Mal eine Schule mit Fachunterricht.  Unsere Lehrer waren mehr oder weniger nationalsozialistisch ausgerichtet, wir lernten allerlei über Hitler, Horst Wessel und das Deutsche Reich. Der Religionsunterricht war freigestellt, aber er fand ausgerechnet zu der Zeit statt, in der wir freien Ausgang hatten, nämlich am Samstag zwischen 16 und 18 Uhr.

Ich war die Jüngste im Heim, unsere Heimleiterin nannte mich die „Letze“  (die „Kleine“), wahrscheinlich war ich auch die Kleinste.  Wir mussten uns täglich im Gemeinschaftswaschraum von oben bis unten mit kaltem Wasser waschen und ich stellte damals mit Staunen fest, wie verschieden in Größe und Form die Busen der zum Teil viel älteren Mitschülerinnen waren, ich hatte so viele Busen noch nie gesehen, ich selber hatte noch keinen.  

Auf Ordnung und Disziplin wurde geachtet, wir mussten zum Bettenappell, zum Nägelappell, zum Fahnenappell usw.  

Oft marschierten wir im Gleichschritt durch die Stadt Bruneck und sangen dabei die im Gesangsunterricht gelernten Nazilieder: „Deutschland über alles“, das „Horst-Wessel-Lied“, „Ein junges Volk steht auf zum Sturm bereit“, „Vorwärts!  Vorwärts! schmettern die hellen Fanfaren“ und noch andere. Zu den unterschiedlichsten Tag- und Nachtstunden gab es Fliegeralarm und wir verbrachten viele Stunden im Luftschutz-Stollen unter dem Schlossberg. Anfang April 1945, rund einen Monat vor Kriegsende, holte uns der Vater ab, das kurze Schuljahr war aus.

 

Im Schuljahr 1945/46 besuchte ich die 5. Klasse in Niederdorf. Die junge Lehrerin Sieglinde Oberbacher vermittelte mir endlich, was Schule und Lernen bedeuten kann. Wir hatten jetzt wieder 28 Wochenstunden, davon in der 4. und 5. Klasse sechs Stunden Italienisch.

 

Im Schuljahr 1946/47 wiederholte ich die 5. Klasse, weil es in Niederdorf keine weiteren Klassen gab. Zum Glück war meine Lehrerin wieder Frau Sieglinde Oberbacher. Sie bot für die „laut Planung Wiederholenden“ ein erweitertes Programm an.

 

Das Schuljahr 1947/48 (mein letztes Pflichtschuljahr) verbrachte ich mit meinen Kusinen Irma und Gusti Bacher im „Herz-Jesu-Institut“ in Mühlbach. Nach einer bestandenen Aufnahmeprüfung kam ich in die 2. Klasse Bürgerschule. Die Schwestern waren sehr bemüht, unsere großen Lücken einigermaßen zu schließen. Am größten war bei den meisten der Nachholbedarf in Italienisch. Schwester Carla Palla aus Fondom/Buchenstein  hat uns „freundlich gedrillt“, ich bin ihr lange noch dankbar gewesen.

Nationalsozialistische Verfügung zur Schrift

Meine Ausbildung zur Lehrerin

Im Schuljahr 1948/49 besuchte ich den sogenannten „Vorbereitungskurs“ in Meran

Wir waren unser 51 in der Klasse

Der Lehrstoff der drei Jahre Lateinmittelschule sollte in einem einzigen Jahr vermittelt werden, so dass wir im Juni zur staatlichen Abschlussprüfung antreten konnten. Die Lateinmittelschule war die Voraussetzung für den Besuch der Lehrerbildungsanstalt

Damals war das Schuljahr noch in Trimester eingeteilt und in jedem Trimester dieses privaten Vorbereitungskurses musste mehr oder weniger der Stoff eines Schuljahres durchgenommen werden. Wir hatten jede Woche acht reguläre Stunden Latein, dazu am Nachmittag nach Bedarf sechs Zusatzstunden

In den Fächern Deutsch, Italienisch und Mathematik war ich durch die Schule in Mühlbach ziemlich gut vorbereitet. Bei der staatlichen Abschlussprüfung im Juni 1949 brachte ich es sogar auf Durchschnitt acht. Da ich Halbwaise war und noch sechs Geschwister hatte, wurde mir der Heimaufenthalt zur Hälfte von der so genannten „Schulhilfe“ (das waren Spendengelder) bezahlt.

In den nächsten vier Jahren besuchte ich die Lehrerbildungsanstalt in Meran. Im Jahre 1953 schloss ich sie mit der Matura ab.

Eine Unterrichtsstelle war uns allen sicher, viele jedoch in abgelegenen Bergdörfern, die oft nur durch einen beschwerlichen  Aufstieg zu Fuß erreichbar waren. Sogar zu vielen großen Dörfern führte damals noch keine Straße.“

Ausbildung zur Lehrerin an der Lehrerbildungsanstalt in Meran. Frau Helga Bacher Federspieler befindet sich links vorne und ist die Dame mit den langen Zöpfen.

Fazit

Bis zu meinem elften Lebensjahr – Abschluss der Grundschule – verbrachte ich weniger als die Hälfte der Unterrichtsstunden eines heutigen Schülers in der Schule. 

Ich habe später allerdings durch Einsatz und Interesse sehr viel aufgeholt. 

Ich ging gern in die Schule, ich sah sie als Chance

Kann „Hans“ also doch noch vieles dazulernen, auch wenn er es als „Hänschen“ durch verschiedenste Gründe versäumt hat?…“

Das waren sie, die Memoiren meiner Grundschullehrerin Helga Bacher Federspieler, geboren in Niederdorf, wohnhaft in Milland/Brixen. Vielen Dank!

10 Antworten

  1. Das ist sehr interessant. Ich war auch einmal in einer Klasse mit 49 Schülern. Interessant wäre , wie die heutigen Methoden damals funktioniert hätten , und noch lustiger, wie wäre es umgekehrt.
    Eine andere, nicht unbedingt bessere Zeit, damals.

  2. Sehr interessanter Beitrag. Ich durfte 1994 vor Beginn meiner Arbeit als Grundschullehrerin drei Tage lang ein Junglehrerseminar in Brixen mit Frau Bacher als Referentin besuchen. Ihre Begeisterung fürs Unterrichten war ansteckend und sie gab uns viele praktische, umsetzbare Hinweise, damit der Start in die Arbeitswelt gelingen konnte. Danke Frau Bacher.

  3. Sehr interessanter Beitrag. Ich durfte 1994 vor Beginn meiner Arbeit als Grundschullehrerin drei Tage lang ein Junglehrerseminar in Brixen mit Frau Bacher als Referentin besuchen. Ihre Begeisterung fürs Unterrichten war ansteckend und sie gab uns viele praktische, umsetzbare Hinweise, damit der Start in die Arbeitswelt gelingen konnte. Danke Frau Bacher.

    1. Was für ein Zufall, dass wir beide von Frau Federspieler lernen durften. Ich glaube, sie hat sich für diesen Kurs sogar einige meiner Hefte ausgeliehen zur Veranschaulichung. Danke für dein Feedback.

  4. Liebe Claudia,
    das ist ein so interessanter Text. Kannst du ihn nicht auch in der Zeitung veröffentlichen?
    Vieles von dem, was du geschrieben hast, wusste ich nicht.

    Heftig finde ich ja das „Wiederholen nach Plan“.

    Toll auf jeden Fall, dass sich deine Grundschullehrerin trotz der eigenen schwierigen Schulzeit für ihren Beruf entschieden hat.

  5. Bewegende und wertvolle Darstellung eines Einzelschicksals und der Vergangenheit des Schulwesens in Südtirol. Die sachliche Erzählung und die abgebildeten Dokumente bringen die so wenig bekannten Südtiroler Vorkommnisse und Zustände in der Phase des Faschismus und darauf folgenden Nationalsozialismus im Zeichen der Option näher.Auch der beschwerliche Aufbruch des Schulwesens in der Nachkriegszeit ist gut nachzuvollziehen. Ich wünsche diesen Memoiren eine weite Sichtbarkeit und bin Claudia Burger für die Veröffentlichung auf ihrem Blog dankbar.

  6. Vielen Dank für diese wunderbare – für mich doppelte – Zeitreise: in die Kindheit und Jugend von Helga Bacher und in meine eigene Kindheit und Grundschulzeit mit unserer großartigen Lehrerin Helga Federspieler, die mir in so wundervoller Erinnerung ist. Danke liebe Helga für diesen optimalen Start in die Welt des Lernens, der unsere Neugier, unsere Kreativität, unsere Individualität und Inspiration immer bewahrt und gefördert hat. Stets mit so viel unersetzlicher Liebe und mit Humor. <3

    1. Danke, lieber Peter, für deine Worte. Wir hatten tatsächlich eine wunderbare Grundschulzeit mit einer außergewöhnlichen und großartigen Lehrerin.

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